Der Klanggestaltung kommt insbesondere im klassischen Lied eine große Bedeutung zu. Haben wir in der Volksmusik, Popmusik oder im Jazz stilistische Ausdrucksmittel, die je nach Region, Trend, Personalstil oder musikalischer Atmosphäre variieren können, so gilt innerhalb der klassischen Gesangskunst das Bestreben, den Klang stets optimal einzustellen. Gemäß den musikalischen Erfordernissen soll der Vortragende in jedem Moment des Singens eine klangliche Ausgewogenheit und somit seine souveräne Technik präsentieren. Das ist nicht immer leicht, denn bei vielen Sängerinnen und Sängern bleibt eine optimale Klanggestaltung immer noch weitgehend demZufall überlassen. Und spielt der Zufall einmal nicht mit, so sind die daraus resultierenden kompensatorischen Maßnahmen entsprechend hoch. Zum besseren Verständnis teile ich die für das Singen notwendigen Vorgänge in drei voneinander unabhängige Bereiche: Phonation - Vokalisation – Artikulation.

Phonation beschreibt den Moment der Tonentstehung. Hier entscheidet das Zusammenspiel muskulärer Aktivitäten im Kehlkopf, um den Kehlkopf herum sowie der Atemdruck auf subglottischer Ebene über den grundsätzlichen Spannungsgrad eines Tones. Wird funktionell, also physiologisch richtig gesungen, so ist der Spannungsgrad der jeweiligen musikalischen Situation angemessen, und wir können von einer eutonen Ausgangslage sprechen. Es wird weder zu viel noch zu wenig Energie aufgewendet, und der singende Mensch kann sich vertrauensvoll den Geschehnissen überlassen, die durch Einstellungen des zentralen Nervensystems auf Kehlkopfebene passieren. Ja, vertrauensvoll ist hier das Zauberwort. Der Sänger braucht Vertrauen in die so genannte selbsterregte, regelmäßige Stimmlippenschwingung, welche aus dem periodischen Wechselspiel myoelastischer und aerodynamischer Kräfte gegeben ist.
"Selbsterregte Schwingungen sind bekannt vom Klappern eines Topfdeckels: Wenn der Dampf einer kochenden Flüssigkeit so viel Druck entwickelt hat, dass der Deckel angehoben wird, entweicht ein Teil des Dampfes, der Druck sinkt ab, und der Deckel fällt zurück. Danach steigt der Druck wieder an, und das Spiel beginnt von Neuem.“ (Seidner, W., Wendler, J., Die Sängerstimme, Seite 86)
Aber welcher „Topf“ hat schon das Vertrauen, dass allein das Feuer unter seinem Boden den Deckel zum Klappern bringen wird? Vielen „Sänger Töpfen“ ist eher das Gefühl eigen, ihre Grunddisposition entspreche nicht den für das Singen notwendigen Erfordernissen – nicht selten eines der Resultate eines langen Gesangsstudiums. Entsprechend der mangelhaften Ausgangslage wird allerlei Aufwand betrieben, die defizitäre Situation zu kompensieren. Eine Erhöhung der Kehlkopfmuskelspannung ist das naheliegende Mittel, und es beginnt ein Teufelskreis. Abgesehen von der Grundanstrengung und der – wenn so etwas häufiger passiert – negativen Auswirkungen auf die Sängergesundheit, wird der Vortragende keinen wirklichen Kontakt zu seinem Publikum aufbauen können. Die hypertone Situation des Künstlers lässt ihn die Zuhörerschaft relativ schnell verlieren. Untersuchungen an der Sprechstimme haben gezeigt, dass eine ständige Überschreitung der Indifferenzlage den nachvollziehenden Hörer durch eigene Muskelanspannungen bald so ermüdet, dass seine Konzentrationsfähigkeit nachlässt. Wenngleich sich das angeführte Beispiel auf den Beruf des Sprechers oder Schauspielers bezieht, so ist die Situation durchaus übertragbar auf die musikalischsängerische Situation. Singt oder spielt jemand mit einer zu hohen, dem musikalischen Erfordernis unangepassten Stimm- oder Körperspannung, so wird das Publikum dieses energetische Missverhältnis sehr wohl mitempfinden und entsprechend in seiner Aufmerksamkeit nachlassen. Bemerkt der Vortragende das, so befindet er sich wiederum in einer Situation des Mangels und wird demzufolge abermals den muskulären Druck erhöhen. Da sich dieses Vorgehen nicht bis ins Unendliche steigern lässt, finden wir nach einem solchen Abend einen „abgesungenen“ Sänger und ein mehr oder weniger zerknirschtes Publikum vor. Schade, denn der Abend hatte so schön begonnen.
Anders jene, die sich in einer hypotonen Situation befinden. Hier ist zwar das Bestreben vorhanden, die für die Phonation erforderliche Spannung hervorzubringen, jedoch reichen die myoelastischen Kräfte nicht aus, um einen physiologisch gesunden und den musikalischen Erfordernissen angemessenen Spannungsgrad zu produzieren. In einer solchen Situation steht die Luft im Vordergrund – die Luft auf der Stimme. Der geringen Spannung der schließenden Muskulatur wird eine Erhöhung des Luftdrucks kompensatorisch entgegengesetzt. Durch die geöffnete Stimmritze entweicht so genannte wilde Luft. Hauchige Stimmen können im Bereich Jazz und Pop zwar als stilistisches Merkmal Verwendung finden, im klassischen Kunstgesang gilt dieser Stimmfehler jedoch als ein Merkmal unzureichender Technik.
Ob es sich nun um Über- oder Unterspannung handelt, mit der einer Stresssituation begegnet wird, in beiden Fällen fehlt der Eutonus – die Wohlspannung. Das, was der singende Mensch als „es singt sich von selbst“ erfährt und was ihn deshalb in Bezug auf seine Darbietung – wenn es dann mal geschieht – so glücklich und zufrieden sein lässt. Denn dann tut der Sänger nichts mehr. Vielmehr lässt er geschehen, stellt sich und sein Instrument als Kanal zur Verfügung für eine Energie, an der alle teilhaben mögen. Gewiss ein Idealzustand, den sich jeder singende Mensch sehnlichst herbeiwünscht. Die Realität sieht leider meist anders aus.
Vokalisation
Vokalisation beschreibt die Art und Weise, den auf Kehlkopfebene entstandenen Primärlaut durch unterschiedliches Ausformen der Ansatzräume, der Mund und Rachenräume, in hörbaren Wohlklang zu verwandeln. Hierbei ist uns ein differenziertes Einstellen von Lippen, Zunge und Kiefer hilfreich. Die aus den jeweiligen Einstellungen resultierende Form stellt so gewissermaßen das Gefäß für den entsprechenden Vokal dar. Jeder Vokal hat seine eigene Mundhöhlenform und eine daran geknüpfte Obertonstruktur. Entsprechend wirken selbst kleine Veränderungen der Mundhöhle auf die Ausformung der Vokale. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn ein lang auszuhaltendes ɑ im Verlauf der Tondauer seinen Glanz verliert oder in die Kehle rutscht, brauchen wir uns nicht zu wundern. Möglicherweise haben wir den Kiefer nicht lange genug offen gehalten oder unbewusst etwas mit unserer Zunge angestellt. Verändert sich das Gefäß, so verändert sich der Klang zwangsläufig. Da beim Singen die Vokaldauer mitunter um mehr als das Zehnfache länger ist als beim umgangssprachlichen Sprechen, macht sich jede kleine Veränderung der Ansatzräume als „klangliche Inkonsistenz“ bemerkbar. Daher ist eine gezielte Vokalarbeit, die differenzierte Einstellungen von Lippen, Zunge und Kiefer zum Ziel hat, für eine sängerische Ausbildung unerlässlich. Vokale bieten uns die Möglichkeit einer optimalen Klanggestaltung. Optimal insofern, als bei richtiger Ausformung des Vokaltrakts nichts Willentliches hinzugefügt werden muss. Der Klang bleibt sich selbst überlassen und schwingt gemäß der natürlichen Gegebenheiten im Körper des Singenden.
Es gibt verschiedene Systeme, um mit Vokalen zu arbeiten. Vokalkreise,-quadrate, -dreiecke und andere Darstellungsformen sollen dem Studierenden dabei behilflich sein, ein Gefühl für die jeweiligen vokalspezifischen Einstellungen zu bekommen und diese dann nach einigem Training wiederholt und präzise einstellen zu können. Sie alle funktionieren, haben ihre Vor- und auch Nachteile. In der praktischen Arbeit des Integrativen Stimmtrainings hat sich ein Vokaldreieck25 herausgebildet, das – zumindest was die deutsche Sprachlautbildung anbelangt – dem Anfänger und auch dem Fortgeschrittenen immer wieder gute Dienste leistet, wenn es darum geht, einen schönen Klang zu produzieren.
Artikulation
ist das dynamische Element in unserem Singen. Das klangliche Kontinuum wird für einen kurzen Moment unterbrochen, um über das Hinzufügen von Konsonanten gesungene Sprache entstehen zu lassen. Für diesen Vorgang sind Spannungsmomente der artikulierenden Muskulatur wichtig, die entsprechend trainiert werden können. Konsonanten sind die „Sprungbretter“ für die Vokale. Auch hier entscheidet zu viel oder zu wenig Spannung darüber, ob der Zuhörer jedes Wort verstehen kann oder sich auf das, was er hört, seinen Reim machen muss. Für einen guten artikulatorischen Spannungsaufbau ist es erforderlich, dass wir Konsonanten zunächst einmal als ein punktuelles Geschehen betrachten. Das mag bei Spreng- oder Verschlusslauten logisch erscheinen, gilt aber in gleichem Maße bei Enge- oder Reibelauten, Lateralen oder Zitterlauten. Es ist nicht das eigentliche Konsonantgeschehen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Vielmehr ist der „Moment des Abspringens" zum Vokal hin wichtig, wollen wir die Konsonanten als dynamisierenden Faktor nutzen. Kann sich der Konsonant als wirkliches Sprungbrett erweisen oder führt beispielsweise ein Zuviel an Spannung dazu, dass dem folgenden Klang ein freies Ausschwingen versagt bleibt? Oder verführt ein Zuwenig an Spannung zu jenem Vokalbrei, der sich lediglich in der Gestaltung schöner Klänge zu erfüllen sucht, ohne an die Verständlichkeit des Textes zu denken? Auch hier sei betont, dass in dem Maße, wie der artikulatorische Apparat seinen für gute Textverständlichkeit erforderlichen Dienst versagt, dieser Mangel in der Regel nach einem Ausgleich, einer kompensatorischen Einstellung auf Kehlkopfebene sucht.

In einem Zeitraum von mehr als 30 Jahren, die ich nun im Bereich Bildung von Stimme und Persönlichkeit arbeite, habe ich tausende unterschiedliche Stimmphänomene kennengelernt, die alle der direkte Ausdruck der dahinter stehenden Persönlichkeit waren. Unsere Stimme ist der unmittelbare Ausdruck sämtlicher inneren Vorgänge des Menschen.
Walter Kafritsas in "Die Musik des Körpers"
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